Finanzstabilität und makroprudenzielle Politik – ein Experimentierfeld zu Lasten der Banken?
Makroprudenzielle Politik – ein Wort, sperrig wie ein Kleiderschrank, aber eine Aufgabe, so wichtig wie der Winterdienst bei Glatteis. Darüber was makroprudenzielle Politik leisten soll, besteht weitgehend Einigkeit: Ihr übergreifendes Ziel ist es, Finanzstabilität zu gewährleisten. Finanzstabilität ist die Voraussetzung dafür, dass eine Wirtschaft gedeihlich wachsen kann, dass Investitionen stetig fließen und Kapitalströme nicht versiegen. Ohne Finanzstabilität – das hat die Krise von 2008/2009 gezeigt – ist alles nichts.
Drei Institutionen
Doch wer für die makroprudenzielle Politik mit welchem Instrumentenkasten und in welchem Radius zuständig sein soll, ist weniger eindeutig umrissen und folglich europaweit unterschiedlich geregelt. In Deutschland ist nicht eine einzelne Institution für die Überwachung der Finanzstabilität verantwortlich, sondern es sind gleich drei. 2013 wurde der Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) ins Leben gerufen, in dem die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die Deutsche Bundesbank und das Bundesfinanzministerium (BMF) paritätisch vertreten sind. Der AFS ist beim BMF angesiedelt und wird von dessen Vertretern geleitet. Er tagt vierteljährlich und beschließt Warnungen und Empfehlungen, die einstimmig getroffen und von den adressierten Institutionen dann umgesetzt werden sollen.
Drei Institutionen, das bedeutet dreimal höchste Fachkompetenz – doch greifen die Räder auch tatsächlich so ineinander über, dass eine kohärente und für den Finanzplatz Deutschland angemessene Politik dabei herauskommt? Zweifel sind erlaubt, denn gewisse Interessenkonflikte zwischen den Beteiligten sind unübersehbar. Aus Bankensicht besonders misslich ist aber noch etwas anderes: Der AFS scheint seinen Blick einzig und allein auf den Bankensektor gerichtet zu haben. Dies aber hat zur Folge, dass Stabilisierungsmaßnahmen in allererster Linie auf die Banken abgewälzt werden und ihre ohnehin nicht einfache Lage weiter verkomplizieren. Wenn damit ein Stabilitätsgewinn einherginge, wäre dies gerechtfertigt, doch auch hierhinter muss ein großes Fragezeichen gesetzt werden.
Der antizyklische Kapitalpuffer
Beispiel antizyklischer Kapitalpuffer. Die Idee hinter diesem Instrument ist vergleichsweise simpel: In Zeiten eines übermäßigen Kreditwachstums sollen die Banken einen zusätzlichen Kapitalpuffer aufbauen, der die Verlustabsorptionsfähigkeit der Banken erhöht. Der Puffer darf im Krisenfall explizit aufgezehrt werden und zur Abfederung von Verlusten dienen. Dadurch soll die Entstehung einer Kreditklemme vermieden werden. Festgelegt wird der Wert von der BaFin. Nachdem der Ausschuss für Finanzstabilität im ersten Halbjahr 2019 die Erhöhung des Puffers empfohlen hatte, hat die BaFin zum 1. Juli 2019 die Quote von 0 Prozent auf 0,25 Prozent erhöht.
Schon diese Anhebung war strittig, doch selbst ein weiterer Nachschlag kann nicht ausgeschlossen werden – zumindest dann nicht, wenn man der Argumentation der Deutschen Bundesbank in ihrem jüngsten Finanzstabilitätsbericht vom 21. November 2019 folgt. In dem Bericht gibt die Bundesbank dem deutschen Finanzsektor zwar insgesamt gute Noten. Dennoch warnt sie erneut davor, dass die Risiken im deutschen Finanzsystem zunehmen. Sie befürchtet unter anderem, dass der Wert von Kreditsicherheiten, insbesondere von Immobiliensicherheiten, aufgrund der in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Preise für Wohnungen, Häuser und Grundstücke überschätzt werden könnte. Schlussfolgerung der Bundesbank: Um Gefahren für die Finanzstabilität vorzubeugen, sind Eigenkapitalpuffer erforderlich, die Verluste auffangen können.
Gegen eine nochmalige Aktivierung des antizyklischen Kapitalpuffers sprechen inhaltliche Gründe, die auch schon im vergangenen Sommer bei der erstmaligen Aktivierung galten. So hat sich der Preisauftrieb im Immobilienbereich dank des anziehenden Neubaus und des hohen Preisniveaus bereits verlangsamt. Davon abgesehen ist eine Fehlallokation von Kapital in den Bau von Wohnungen, die keiner benötigt, gar nicht zu erkennen. Im Gegenteil, es wird immer noch zu wenig gebaut. Ein antizyklischer Kapitalpuffer, der die Kreditvergabe wirksam bremst, würde die Probleme auf dem Immobilen- und dem Wohnungsmarkt noch verstärken.
Bankensektor im Mittelpunkt
Mindestens genauso wichtig in diesem Zusammenhang: Einmal mehr steht der Bankensektor, und zwar allein der Bankensektor, im Mittelpunkt der makroprudenziellen Politik. Und das, obwohl ihm sowohl auf nationaler Ebene als auch vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bescheinigt wird, dass er durch zahlreiche regulatorische Reformen erheblich stabiler geworden ist. Speziell der IWF sieht die Gefahren für die Finanzmarktstabilität außerhalb des Bankensektors.
Der Versuch, die Finanzstabilität allein durch die Stärkung der Passivseite einer Bankbilanz zu gewährleisten, ist auch deswegen zweifelhaft, weil dies zuverlässige Indikatoren für die makroprudenzielle Risikomessung und zuverlässige Beweise für die Korrelation zwischen Risiko und regulatorischem Kapital erfordert. Genau hier aber steckt die makroprudenzielle Politik noch in den Kinderschuhen. Selbst mehr als zehn Jahre nach der Finanzkrise tastet sie sich noch immer mit ungeprüften Instrumenten in einem weitgehend unerschlossenen Gebiet voran. Auch über die Wirksamkeit des antizyklischen Kapitalpuffers ist übrigens nur wenig bekannt: Wir haben nicht genügend empirisches Wissen über Zeitverzögerungen und über mögliche Ausstrahlungen in den Kreditzyklus.
Wenn sich die makroprudenzielle Politik dennoch fast ausschließlich mit den Banken befasst, erinnert das an einen Betrunkenen, der seinen Hausschlüssel unter einer Straßenlaterne sucht. Nicht weil er ihn dort verloren hat, sondern weil es einfacher ist, dort zu suchen, wo es hell ist. Sucht man also nur deshalb bei den Banken, weil man sie kennt, weil man sie sieht und weil es in anderen Bereichen einfach zu dunkel ist? Wie auch immer, die Kosten jedenfalls bleiben am Ende bei ihnen hängen.
Makroprudenzielle Politik versus Geldpolitik
Die Schlagseite der bisherigen makroprudenziellen Politik, die einseitig in Richtung Banken zielt, ist nicht strukturell bedingt. Ein größerer Fokus auf andere Finanzmarktakteure wäre möglich und würde auch zu einer ausgewogeneren Politik führen. An einer anderen Stelle allerdings sind Widersprüche und Inkonsistenzen vorprogrammiert – da nämlich, wo Geldpolitik und makroprudenzielle Politik miteinander in Beziehung treten, ohne dass es ein abgestimmtes Verhalten gäbe und ohne dass klar wäre, wo das eine beginnt und das andere endet und wie überhaupt beides miteinander zusammenhängt.
Bringen wir es auf den Punkt: Die ultraexpansive Geldpolitik im Euroraum hat zu extrem niedrigen Zinssätzen geführt, wodurch wiederum die Nachfrage nach risikoreicheren Anlagen gestiegen ist. Anders gesagt: Die hohen Bewertungen an einigen Vermögensmärkten im Euroraum sind auch auf die Politik der EZB zurückzuführen; die Geldpolitik ist daher mindestens teilweise verantwortlich für den Anstieg des systemischen Risikos an den Finanzmärkten.
Eine verwirrende Situation: Einerseits hat die Geldpolitik die Flucht in riskante Anlagen begünstigt und obendrein die Ertragsbasis der Banken radikal ausgehöhlt, wobei speziell die negativen Zinssätze einen starken Kostendruck auf die Institute ausüben. Andererseits versuchen die makroprudenziellen Entscheidungsträger (unter ihnen die Bundesbank) die daraus resultierenden Stabilitätsrisiken durch die Aktivierung des antizyklischen Kapitalpuffers einzudämmen, was die Erträge der Banken weiter belasten wird. Eine frühzeitige geldpolitische Korrektur hätte diesen Konflikt weit weniger kostspielig machen können.
Die Arbeitsteilung zwischen Geld- und makroprudenzieller Politik muss überdacht werden. Ganz konkret stellt sich sogar die Frage: Könnte die Geldpolitik nicht die bessere makroprudenzielle Politik sein, um den wachsenden Stabilitätsrisiken zu begegnen? Zumal ja auch der Zusammenhang zwischen Finanz- und Preisstabilität evident ist: Die Finanzstabilität erleichtert einerseits die Gewährleistung der Preisstabilität, und die Finanzstabilität profitiert andererseits von der Preisstabilität. Für die Geldpolitik würde das bedeuten: Auch weiterhin sollte sie vollständig auf das Ziel Preisstabilität ausgerichtet bleiben. Allerdings müsste die Finanzstabilität ein relevanter Faktor sein, der bei der Gestaltung und der Verhältnismäßigkeit der politischen Maßnahmen zu berücksichtigen wäre.
Transparenz notwendig
Einstweilen sieht die Wirklichkeit anders aus. Während mit der Geldpolitik allgemein akzeptierte Ziele verfolgt und diese auch vergleichsweise transparent kommuniziert werden, spiegelt die Diskussion vor und nach der Aktivierung des antizyklischen Kapitalpuffers die Kinderkrankheiten wider, die die makroprudenzielle Politik noch immer kennzeichnen. Der AFS könnte gut und gerne als „geheimer Ausschuss“ bezeichnet werden, denn weder die Sitzungstermine noch die jeweilige Tagesordnung werden veröffentlicht. Es gibt auch keine regelmäßige Pressekonferenz nach einer Sitzung. Wie dies Vertrauen in die makroprudenzielle Politikgestaltung schaffen soll, bleibt eine offene Frage. Damit die makroprudentielle Politik auf allgemeine Anerkennung stößt, sind mehr Transparenz und ein Verständnis dafür, welche Gründe für die jeweiligen Entscheidungen ausschlaggebend sind, unabdingbar.
Wie bei der Geldpolitik sollten die makroprudenziellen Entscheidungsträger ihre Überlegungen öffentlich erklären, indem sie „vorausschauende Leitlinien“ bereitstellen. Nur dann wird es möglich sein, ein substanzielles Gespräch über die Entwicklung der systemischen Risiken zu führen. Eine offene und transparente makroprudenzielle Politik würde die Anforderungen an die beteiligten Akteure verändern. Eine kollektive Unterschätzung des Risikos aufgrund der langen Niedrigzinsphase müsste dann zweifellos durch öffentlich zugängliche und plausible Fakten untermauert werden.